|
|
||||
| ||||
| ||||
von Prof. Dr. Jens Leker
Die anhaltende wirtschaftliche Konjunkturschwäche und die hieraus resultierende, wieder stark zunehmende Zahl der Unternehmenszusammenbrüche haben die Diskussion um den Einsatz aufwendiger Systeme zur Beurteilung und Steuerung von Kreditrisiken wieder neu belebt. Ziel dieses Beitrages ist es, die aktuell diskutierten Verfahren zur Beurteilung von Ausfallsrisiken - vor dem Hintergrund der bisher dokumentierten Entwickler- und Anwenderberichte - kritisch zu beschreiben. Im einzelnen werden die unter den Stichworten "Expertensysteme" und "Diskriminanzanalyse" bekannt gewordenen Ansätze näher betrachtet. Im Anschluß an diesen Verfahrensvergleich wird aufgezeigt, wie auf der Grundlage dieser Kreditbeurteilung Techniken der Steuerung von Kreditrisiken mit Hilfe von Risikoklassen entwickelt werden können. Die Ausführungen richten sich vorrangig an den im Kreditgeschäft tätigen Praktiker, der in seiner täglichen Arbeit bereits heute oder aber in absehbarer Zeit mit entsprechenden Verfahren konfrontiert wird.
Studiert man die Fachzeitungen im Hinblick darauf, welche Themen von ihnen bevorzugt behandelt worden sind, zeigt sich insbesondere seit Anfang letzten Jahres wieder ein verstärktes Interesse an der Problematik der Beurteilung von Ausfallsrisiken. Die Ursache hierfür ist unter anderem in der steigende Zahl von Unternehmenszusammenbrüchen zu sehen.
Vor diesem Hintergrund ist es nur zu erklärlich, daß sich die Kreditinstitute intensiv mit den Anwendungmöglichkeiten moderner Verfahren zur Beurteilung des Ausfallsrisikos im Einzel- und Mengengeschäft befassen. Betrachtet man die aktuell diskutierten Verfahren unter den Aspekten Einsatzbereich und Automationsgrad, so läßt sich eine Einteilung wie in der folgenden Abbildung vornehmen:
Einsatzbereich Automatisie- rungsgrad | Einzel- | Mengen- | Kredit- |
traditionelle, individuelle Kreditbeurteilung | Gespräch |
|
|
traditionelle, automatisierte Kreditbeurteilung | Checkliste | Kredit-Scoring | Risikomatrix |
EDV-gestützte Kreditbeurteilung | Expertensysteme | Kredit-Scoring | Bildung von Risikoklassen |
EDV-gestützte Kreditbeurteilung mit math.- stat.Verfahren |
| Diskriminanzanalyse | Portfolio- Selection- Theorie |
Auf eine Beschreibung der traditionellen Verfahren sowie ihrer Umsetzung auf EDV-gestützte Systeme soll an dieser Stelle verzichtet werden. Der Verfahrensvergleich konzentriert sich im folgenden auf die expertensystemgestützte Beurteilung des Einzelgeschäftes, die großzahlige Beurteilung im Mengengeschäft mit Hilfe mathematisch-statistischer Verfahren und die hierauf aufbauende Ermittlung von Risikoklassen.
Eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung von Expertensystemen im Bereich der Kreditwürdigkeitsprüfung bilden die Ergebnisse der Krisenforschung. Das Problem dieser Krisenforschung ist, daß sie eine enorm große Zahl von Informationen der unterschiedlichsten Art verarbeiten muß, um ihre Schlußfolgerungen ziehen zu können. Aus diesem Grund bot es sich mit dem Aufkommen immer leistungsfähigerer Computer und Computerprogramme an, diesen komplexen Diagnoseprozeß durch den EDV-Einsatz zu unterstützen. Ziel des Einsatzes von Expertensystemen ist es hierbei, im Idealfall den Entscheidungs- und Beurteilungsprozeß des besten Experten beziehungsweise des besten Expertenkollegiums abzubilden und den Anwender durch diesen vorbildhaften Dialog zu unterstützen. Er soll angeleitet werden, alle Aspekte zu bedenken und zu verknüpfen, die auch diese Experten berücksichtigen würden.
Welche Aufgaben erfüllt ein Expertensystem in diesem Zusammenhang?
Das in einem derartigen Expertensystem implementierte Fragenkonzept umfaßt regelmäßig alle für wichtig erachteten Bereiche der klassischen Kreditwürdigkeitsprüfung. Die nachfolgende Liste von Fragen aus dem von Bagus in Zusammenarbeit mit der Commerzbank entwickelten Expertensystem CODEX verdeutlicht anhand einiger ausgewählter Beispiele, mit welchen Fragen der Anwender bei einer Konsultation dieses Expertensystems konfrontiert wird:
An den Einsatz derartiger Systeme sind zunächst sehr hohe Erwartungen geknüpft worden, da sie eine Reihe von Vorzügen gegenüber den vollautomatisierten Klassifikationsverfahren aufweisen. So ermöglicht die dialogorientierte Urteilsfindung eine starke Einbindung des Kreditsachbearbeiters, der letztlich durch einen systematischen, sozusagen "intelligenten" Fragenkatalog unterstützt wird. Dieser Fragenkatalog kann weiterhin so gestaltet werden, daß er sowohl quantitative als auch qualitative Aspekte abfragt und zu Urteilen verdichtet. Somit ist es möglich, neben dem Zahlenwerk des Jahresabschlusses auch Aspekte, wie eine Einschätzung der weiteren Unternehmensentwicklung oder die Bewertung der Managementleistung, in das Urteil miteinzubeziehen. Ein weiterer Vorzug ist schließlich die umfassende Dokumentation des Beurteilungs- und Entscheidungsprozesses, die neben der Information des Kreditsachbearbeiters auch einen späteren Nachvollzug bei aufgetretenen Fehlentscheidungen ermöglicht.
Trotz dieser augenscheinlichen Vorteile sind Einsatz und Akzeptanz von Expertensystemen für Kreditwürdigkeitsbeurteilungen im Firmenkundengeschäft in den letzten Jahren nur sehr zögernd vorangekommen.
Grund für diese Zurückhaltung ist zum einen die unprofessionelle Gewinnung des Expertenwissens, bei der regelmäßig nur wenige, häufig sogar nur ein Experte befragt werden. Eine Auswertung der dokumentierten Theorien oder gar eine empirische Prüfung des sogenannten Expertenwissens findet in der Regel nicht statt.
Zum anderen führt die Dominanz der Entwickler häufig zu einer übertriebenen Mechanisierung des Beurteilungsprozesses, die weitere Barrieren beim Nutzer aufbaut. In der folgenden Zeit werden dann die so aufgebauten Widerstände bei den potentiellen Systemnutzern ignoriert, so daß die mit hohem Aufwand erstellten Systeme letztlich doch nur als teure Schulungssysteme für Berufsanfänger im Sinne eines "computer-based-training" zum Einsatz kommen.
Die Grundüberlegung des Einsatzes von Diskriminanzanalysen im Mengengeschäft ist, daß sich die Mißerfolgsursachen bereits im Vorfeld der Unternehmenskrise in einer Veränderung des Jahresabschlußbildes niederschlagen. Diese Veränderung fällt hierbei so stark aus, daß sie eine Differenzierung zwischen krisengefährdeten Unternehmen und Unternehmen mit einer unauffälligen Geschäftsentwicklung ermöglicht. Ziel der Diskriminanzanalyse ist es nun, diese durch eine entsprechende Kennzahlenbildung noch stärker betonten Unterschiede in den Jahresabschlußzahlen für eine möglichst frühzeitige Diskriminierung der krisengefährdeten Unternehmen zu nutzen. Das hierbei zum Einsatz kommende statistische Verfahren selektiert die zu verwendenden Kennzahlen, ermittelt ihre multivariate Verknüpfung und den kritischen Wert, ab dem ein Unternehmen als krisengefährdet eingestuft wird.
Betrachtet man die Ergebnisse von in Deutschland durchgeführten Untersuchungen zur Leistungsfähigkeit von Diskriminanzfunktionen, so zeigt sich, daß diese regelmäßig eine Klassifikationsgüte von 75 bis 85% erreichen. Mit anderen Worten: Die entwickelten Diskriminanzfunktionen sind in der Lage, zirka 80% der späteren Insolvenzen und der Unternehmen mit einer unauffälligen Geschäftsentwicklung bereits 2-3 Jahre im Vorfeld richtig einzuordnen.
Beispielhaft für die Einschätzung der Leistungsfähigkeit der Diskriminanzanalyse im Rahmen der computergestützten Kreditüberwachung sei hier die Ansicht von Thomas zitiert, der bei seiner großzahlig angelegten Untersuchung für die Deutsche Bundesbank zum Ergebnis kommt:
"Insgesamt: Quantitative Kreditnehmeranalysen - das sind Diskriminanzanalysen auf der Basis von Jahresabschlüssen sind möglich, ihre Ergebnisse brauchbar; Voraussetzung ist aber, daß sie kritisch betrachtet und genutzt werden und daß ihnen die Erkenntnisse und Informationen hinzugefügt werden, die die Jahresabschlüsse selbst nicht liefern können."
Die im Nachsatz von Thomas anklingende Einschränkung leitet zu der Frage über, welche Defizite bei der Diskriminanzanalyse und - weit häufiger - bei den mit ihr durchgeführten Untersuchungen auftreten.
Grundsätzlich richtet sich die Kritik am Einsatz der Diskriminanzanalyse gegen eine unzureichende theoretische Fundierung, eine entsprechend unsachgerechte Bildung der Kennzahlen sowie Fehler bei der Verfahrensanwendung. Im folgenden sollen die bereits von Gemünden vorgebrachten Argumente kurz skizziert und insbesondere die Mängel im Bereich der Ergebnisinterpretation genauer dargestellt werden.
Betrachtet man die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchungen, wird die starke Verfahrensorientierung der Entwickler deutlich. So steht die Variation der Verfahren mit dem Ziel einer Verbesserung der Trefferquoten regelmäßig im Vordergrund des Interesses. Erklärungsansätze, wie und warum Unternehmenskrisen entstehen und welche Auswirkungen sich hieraus auf das ausgewiesene Jahresabschlußbild ergeben, finden sich dagegen selten. Die ermittelten Diskriminanzfunktionen sind letztlich nichts anderes als statistisch optimal gewichtete Symptombeschreibungen, die die spezifischen Ursachen für einen Verlust oder eine hohe Verschuldung nicht hinterfragen.
Auch für die wichtige Frage, ob Maßnahmen des Krisenmanagements noch erfolgreich eingesetzt werden können, liefern die ermittelten Diskriminanzwerte keine Entscheidungshilfe. Denn wenn man die Erfolgsaussichten derartiger Maßnahmen beurteilen will, muß man wissen, welche Erfolgspotentiale bestehen, welche stillen Reserven noch vorhanden sind, und insbesondere, welche von der Krise bisher nur betroffene Gruppen, wie Kapitalgeber, Lieferanten und Arbeitnehmer, aktiv den Krisenbewältigungsprozeß unterstützen und so zu Beteiligten werden.
Die unkritische Anwendung von Diskriminanzfunktionen führt aber gerade dazu, daß derartige erfolgversprechende Krisenbewältigungsprozesse im Ansatz zerstört werden - es kommt zu einer sozusagen unheilvollen "sich selbst erfüllenden Prophezeihung" !
Betrachtet man kritisch den Bereich der Kennzahlenbildung und Verfahrensanwendung, zeigt sich ein ähnliches Bild: Die Mehrzahl der Systementwickler überläßt die Auswahl der Kennzahlenkombinationen häufig einem betriebswirtschaftlich nicht reflektierten, statistischen Algorithmus - und dies, obwohl heute allgemein anerkannt ist, daß die Voraussetzungen für die Anwendung der linearen Diskriminanzanalyse meistens nicht erfüllt sind. Diese in der Regel auf Verteilungsprobleme zurückgehenden Annahmeverletzungen führen überdies zu einer systematischen Aussteuerung von weniger stark aggregierten Kennzahlen sowie von Kennzahlen, die einzelne Problembereiche, wie den Absatz-, Betriebs- oder Investitionsbereich, abbilden. Im Ergebnis verbleiben deshalb nur wenige hochaggregierte Kennzahlen für die eigentliche Klassifikation.
Bei der Schätzung der Klassifikationsleistung wird schließlich nur in den seltensten Fällen eine Überprüfung an einer ausreichend großen Zahl von neuen Fällen vorgenommen. Gerade diese großzahlige Validierung ist aber von besonderer Bedeutung, da die Diskriminanzfunktionen sich bekanntermaßen sehr stark an die zugrundeliegenden Stichproben anpassen und die auf dieser Basis ermittelten Trefferquoten zu optimistisch ausfallen.
Ein weiteres Problem, das in der Literatur, die sich kritisch mit der Diskriminanzanalyse auseinandersetzt, bisher nur wenig Beachtung gefunden hat, ist die regelmäßig auftretende Überinterpretation der Ergebnisse - oder, genauer gesagt, des von der jeweiligen Diskriminanzfunktion ermittelten Z-Wertes. Die folgende Abbildung zeigt in einer stark vereinfachten Form die Wirkungsweise der von der Diskriminanzanalyse angestrebten Gruppentrennung:
Hierbei ist zu beachten, daß neben der vorgenommenen Maximierung der Streuung zwischen den beiden Gruppen auch eine Minimierung der Streuung innerhalb jeder einzelnen Gruppe erfolgt. Dieser Verfahrensweg bewirkt, daß die Wahrscheinlichkeit, daß ein Unternehmen einer der beiden Gruppen angehört, am jeweiligen mittleren Z-Wert dieser Gruppe am höchsten ist. Dieser Sachverhalt wird allerdings in der Praxis häufig ignoriert. Statt dessen wird ein besonders negativer Z-Wert im Sinne einer besonders hohen Insolvenzwahrscheinlichkeit und ein besonders positiver Z-Wert im Sinne einer besonders erfolgreichen Unternehmensentwicklung interpretiert. Letztlich bringen diese hohen Z-Werte jedoch nur zum Ausdruck, daß die entsprechenden Unternehmen im Sinne von Ausreißern jeweils nur mit einer geringen Wahrscheinlichkeit überhaupt einer der beiden Gruppen zugeordnet werden können.
Es erscheint im übrigen höchst zweifelhaft, daß eine Funktion, die auf die Trennung von insolvenzgefährdeten und unkritischen Unternehmen hin optimiert worden ist, in der Lage ist, Krisen unterschiedlicher Stadien und insbesondere auch erfolgreiche Unternehmensentwicklungen zutreffend zu prognostizieren.
Die Grundidee war hierbei zunächst, die vorgestellten Analyseverfahren im Mengengeschäft so zu erweitern, daß sie eine Diagnose von unterschiedlich schweren Krisengefährdungsgraden ermöglichen. Mit anderen Worten: weg von einer "schwarz-weiß"-Klassifikation, hin zu einer differenzierten Klassifikation in mehrere Risikoklassen. Die Anzahl der Klassen wird in Anlehnung an die Risikogruppenbildung des IdW meist auf vier festgelegt, wobei die in der nachfolgenden Tabelle dargestellten Klassen unterschieden werden:
Risiko- klasse | IdW (1978) | Lambert (1985) | Brakensiek (1991) | Leker (1993) |
I | Kredite ohne erkennbare Risiken | Kredite ohne bonitätsmäßige Bedenken | Kredite ohne erkennbare Ausfallrisiken | Unternehmen mit unauffälliger Geschäfts- entwicklung |
II | anmerkungs- bedürftige Kredite | Kredite mit nicht ganz bedenkenfreier Bonität | Kredite mit erhöhten Risiken | Unternehmen im Vorfeld einer manifesten Krise |
III | notleidende Kredite | Kredite mit erhöhtem Wagnis | wertberichtigungs- bedürftige Kredite | Unternehmen im Vorfeld einer Sanierung |
IV | uneinbringliche Kredite | risikobehaftete Kredite | Kredite, die nicht abschließend beurteilt werden können | Unternehmen im Vorfeld einer Insolvenz |
Das von uns entwickelte System beschränkt sich zur Zeit auf eine ausschließlich auf der Basis von Jahresabschlüssen vorgenommene Einschätzung der Bonität der jeweiligen Unternehmen. Diese Klassifizierung wird mit Hilfe von drei Diskriminanzmodellen durchgeführt, die in umfangreichen empirischen Tests ermittelt und anhand von neuen Fällen auf ihre Klassifikationsleistung überprüft wurden.
Für die Generierung des Groburteils verwenden wir vier Kennzahlen: eine betriebliche Rentabilität, eine Verbindlichkeitenquote eine Rücklagenquote sowie den Anteil der Verbundforderungen am Umlaufvermögen. Im Anschluß an diese Grobklassifizierung wird jeweils für die mit (- - - = Unternehmen im Vorfeld einer Insolvenz) und (- - = Unternehmen im Vorfeld einer Sanierung) klassifizierten Unternehmen und die mit (- = Unternehmen im Vorfeld einer manifesten Krise) und (+ = unauffälliges Unternehmen) klassifizierten Unternehmen erneut eine eigenständige Diskriminanzanalyse durchgeführt. Hierbei wird für die beiden sehr schlechten Urteile (- - - und - -) eine Prüfung der Fortführungswahrscheinlichkeit unternommen, während für die beiden anderen Urteile (- und +) eine grundsätzliche Einschätzung der Krisenwahrscheinlichkeit vorgenommen wird.
Die Tatsache, daß die zwei hierbei verwendeten einfachen Diskriminanzfunktionen sich deutlich in der Kennzahlenzusammensetzung unterscheiden, bestärkt unsere Vermutung, daß die Diagnose unterschiedlich schwerer Krisenstadien mit einer einzigen Diskriminanzfunktion nur unzureichend möglich ist.
Für die Überprüfung der Fortführungswahrscheinlichkeit hat sich die multivariate Verknüpfung folgender Kennzahlen als besonders geeignet erwiesen: eine Leistungsrentabilität, eine Anlagenintensität, der Anteil der Grundstücke und Gebäude am Anlagevermögen und eine am Gesamtkapital relativierte Quote der Leistungsverbindlichkeiten.
Für eine Überprüfung der Krisenwahrscheinlichkeit waren dagegen lediglich drei Erfolgskennzahlen geeignet - und zwar der Krisensignalwert, die Umschlagsdauer des Umlaufvermögens und die Reichweite des Materiallagers.
Die folgende Abbildung zeigt beispielhaft die Klassifikationsleistung des entwickelten Systems für die zur Systementwicklung analysierten Unternehmen drei Jahre vor Eintritt des kritischen Ereignisses:
Die Abbildung macht deutlich, daß eine differenzierte Diagnose der betrachteten Krisenstadien bereits schon drei Jahre im Vorfeld mit einem befriedigenden Resultat möglich ist. So gelingt es, jeweils über die Hälfte der Unternehmen dem entsprechenden Krisentyp zuzuordnen, wobei regelmäßig mehr als 20% der nicht richtig klassifizierten Fälle der jeweils ähnlichsten Gruppe zugeordnet werden. Auffällig ist hierbei insbesondere die gute Diagnoseleistung bei den Unternehmen im Vorfeld einer Insolvenz und die relativ schlechte Diagnosemöglichkeit der Unternehmen im Vorfeld einer manifesten Krise.
Die so vorgenommene Risikoklassenbildung ermöglicht neben der Beurteilung der einzelnen Kreditnehmer auch eine erste Beurteilung des Gesamtkreditmanagements im Sinne einer "periodischen Kreditinventur". Brackensieck schlägt hierfür die Bildung einer "Branchen-/Risikogruppen-Matrix" vor.
Für die bereits eingegangenen Engagements können je nach ermittelter Risikoklasse entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden. Diese werden in der folgenden Tabelle verdeutlicht:
Risikoklasse | Maßnahmen |
Unternehmen mit unauffälliger Geschäftsentwicklung | Regelmäßige, jährliche Überprüfung der wirtschaftlichen Lage |
Unternehmen im Vorfeld einer manifesten Krise | - Anforderung unterjähriger Informationen (Quartalsberichte, Finanzplanungsdaten), - Regelmäßige Kundengespräche, - Laufende Kontoüberwachung, - Zusätzlicher Kreditbedarf nach entsprechender Prüfung mit Risikozuschlag |
Unternehmen im Vorfeld einer Sanierung | - Erarbeitung einer Sanierungskonzeption, - Prüfung der Gläubigersituation (Hausbankfunktion), - Strenge Kontoüberwachung, - Zusätzlicher Kreditbedarf nur bei Übereinstimmung mit Sanierungskonzeption |
Unternehmen im Vorfeld einer Insolvenz | - Eintreibungsmaßnahmen, - Anteilige Wertberichtigung für Blanko-Anteil, - Verhandlungen mit anderen Gläubigern zur Synchronisation der Maßnahmen und Abschätzung der Fortführungsmöglichkeiten, - Keine zusätzliche Kreditgewährung |
Für die Vergabe von neuen Krediten bleibt es in diesem System der Bank selbst überlassen, entsprechend ihrer individuellen Chancen-/Risiko-Situation den für sie akzeptablen Grenzwert festzulegen. Die folgende Tabelle gibt stellvertretend für eine Zwei-Gruppen-Klassifikation an, wie hoch die Anzahl der mit dem System richtig klassifizierten Insolvenz- und Kontrollfälle der Analysestichprobe in Abhängigkeit vom gewählten Grenzwert ist, und zeigt damit eine Möglichkeit zur Ermittlung des individuellen Grenzwertes auf.
Die nachfolgende Tabelle verdeutlicht, die Ermittlung des individuellen Grenzwertes für die Vergabe von neuen Krediten. Angegeben ist jeweils die Anzahl der richtig klassifizierten Insolvenz- und Kontrollfälle in Abhängigkeit vom gewählten Grenzwert bei einer Zwei-Gruppen-Diskriminierung drei Jahre vor Eintritt der Insolvenz:
richtig klassifizierte Insolvenzen (n=44) [absolut] [%] | richtig klassifizierte Kontrollfälle (n=120) [absolut] [%] | Gesamtgüte (n=164) [absolut] [%] | |
| = - - - / - | 16 36,4 | 116 96,7 | 132 80,5 |
| >= - - / - | 21 47,7 | 113 94,2 | 134 81,7 |
| >= - - - / + | 32 72,3 | 106 88,3 | 138 84,1 |
| >= - - / + | 38 86,4 | _92 76,7 | 130 79,3 |
| >= - / - | 40 91,0 | _83 69,2 | 123 75,0 |
| >= + / - | 42 95,5 | _67 55,8 | 109 66,5 |
| >= - / + | 42 95,5 | _58 48,3 | 100 61,0 |
| >= + / + | 44 100 | __0 __0 | _44 26,8 |
Die Tabelle zeigt, daß die beste Gesamtklassifikation erreicht wird, wenn alle Fälle mit einer schlechteren Bewertung als "- - / +" als insolvenzgefährdet eingestuft werden. Bei dieser Vorgehensweise werden 88,3% der Kontrollfälle und 72,3% der Insolvenzfälle richtig klassifiziert, so daß sich aufgrund der höheren Zahl der Kontrollfälle eine Gesamtgüte von 84,1% einstellt. Ist dem Anwender hierbei die Zahl der nicht frühzeitig erkannten Insolvenzen zu hoch, weil zum Beispiel die Kosten bei einer nicht rechtzeitig erkannten Insolvenz höher sind als die Einbußen, die aus der falschen Einschätzung eines Kontrollfalles resultieren, kann er durch die Verschiebung des Grenzwertes um eine Beurteilungsstufe eine Verbesserung der Insolvenzdiagnose um 14 Prozentpunkte auf 86,4% erreichen, muß allerdings in Kauf nehmen, daß sich hierdurch die Zahl der falsch klassifizierten Kontrollfälle um fünf Prozentpunkte auf 23,3% erhöht.
Die Grenzen des derzeitigen Systems sind insbesondere durch die ausschließliche Verwendung von Jahresabschlußinformationen eng gesteckt. Eine Erweiterung um zusätzliche Indikatoren zur Beurteilung des Gefährdungsgrades, wie zum Beispiel Informationen über die Unternehmenssituation, die Kontoführung und die Sicherheiten, erscheint erstrebenswert. Eine empirische Prüfung der vorgeschlagenen Indikatoren steht allerdings noch aus.
Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der für die Systementwicklung zugrundegelegten Analysestichprobe. So ist das System in der jetzigen Form ausschließlich für die Beurteilung von Aktiengesellschaften des Verarbeitenden Gewerbes geeignet. Eine Übertragung auf andere Rechtsformen erfordert nach unseren Untersuchungen zwar kein grundsätzlich neues Systemdesign, allerdings sind eine Anpassung der gebildeten Kennzahlen und eine erneute Eichung der Diskriminanzmodelle an neuen Fällen unumgänglich.
Mit der Diskriminanzanalyse und den - hier nicht näher erläuterten - Neuronalen Netzen haben wir heute Analyseverfahren, die eine automatische Klassifikation von Unternehmen in Risikoklassen mit einer für den Praxiseinsatz im Mengengeschäft tauglichen Trefferquote erlauben. Gleichzeitig liegen Expertensysteme vor, die die Prüfung der Kreditwürdigkeit im Einzelfall durch eine mit Hilfe von Experten gestaltete Dialogführung unterstützen, eine empirische Überprüfung ihrer Leistungsfähigkeit steht allerdings noch aus.
Momentane Forschungsaufgaben liegen zum einen in der Verknüpfung von automatisch vorsortierenden Klassifikationsverfahren und Expertensystemen, die einen risikoklassenspezifischen Einstieg in das Dialogsystem und eine entsprechende bedarfsgerechte Gestaltung des Dialoges erlauben. Eine derartige Verknüpfung würde zu einer Verkürzung der Dialogzeiten bei unauffällig vorbeurteilten Unternehmen führen und eine intensive Analyse kritisch vorklassifizierter Grenzfälle ermöglichen. Insgesamt könnten so die Stärken beider Analyseverfahren sinnvoll kombiniert werden.
Zum anderen erscheint es wichtig, die Systeme um eine Komponente, welche die relativ ausgereifte Analyse des Einzelengagements um eine strategische, das gesamte Kreditportefeuille berücksichtigende Analyse ergänzt, zu erweitern.
Prof. Dr. Jens Leker |
|
Erstveröffentlichung im Krisennavigator (ISSN 1619-2389):
1. Jahrgang (1998), Ausgabe 1 (November)
Deutsch
/ English
Letzte Aktualisierung: Montag, 9. September 2024
© Krisennavigator, Kiel / Hamburg. Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung und Verbreitung - auch auszugsweise - nur mit ausdrücklicher
schriftlicher Genehmigung des Krisennavigator - Institut für Krisenforschung, Kiel.
Internet: www.krisennavigator.de
|